Mosaikstein-Meldungen und Florilegium zu Gedichtvorkommen im öffentlichen Realraum, elektronisch geharkt, kommentiert aufbereitet und mit Dank an alle Zuträger und Zuträgerinnen der Zukunft überlassen:
Köln
– Als Anfang Februar Schnee fiel und, was selten genug vorkommt, am anderen Tag liegen blieb, hat dieses Ereignis im Kölner Norden offenbar einen unbekannten Jandl-Fan auf den Plan gerufen. Denn ausschließlich auf Jandl-Fragmente im Schnee stieß ich bei meinen Pausenspaziergängen im Nippeser Tälchen und auf der Rennbahn an mehreren Stellen. Weil der Kamera-Akku in der Kälte schlapp gemacht hatte, konnte ich nur diese beiden aufnehmen:

Es jandlt: Ottos Mops kotzt auf einer Parkbank im Nippeser Tälchen

Aus dem Jandl-Gedicht „im park“ geliehene Zeilen zieren das Dach einer Kinderspielhütte an der Galopprennbahn
– Ebenfalls in Nippes, für Köln erstaunlich genug, stieß ich auf Verse eines Düsseldorfers:

Heinrich Heine, fragmentiert, in der Mauenheimer Straße
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Prag
– Vom Václav-Havel-Flughafen Prag schickt Klára Hůrková Leuchtschriftgedichte. Sie stammen von Václav Havel selbst, dessen Schaffen Kateřina Bártová in ihrer Abhandlung zur Geschichte der konkreten Poesie wie folgt einordnet: „Ein Sonderkapitel der tschechischen Poesie stellte Václav Havel dar. Mit seinen Sammlungen „das erste Mal“ (1966), „das zweite Mal“(1994) und „Antikode“, zeigte er einen künstlerischen Unterschied zu den anderen Autoren der tschechischen Experimentellen Poesie, der in der Kritik der Politik und des sozialen Wesens bestand. Im Wesentlichen behandeln seine Titel rationelle Systeme, Mathematik, Logik und Grammatik. Trotz diesem objektiven, wissenschaftlichen Prinzip können wir hinter jedem seiner Texte ein Autorbewusstsein und sein gesellschaftliches Engagement sehen.“

Relativitätsgleichungsbaum von Václav Havel (Bild: Klára Hůrková)

Wortkasten von Václav Havel (Bild: Klára Hůrková)
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Türkei
– Achim Wagner schreibt: „In der Türkei fördern die Stadtteilverwaltungen von Çankaya (Ankara) und Kadıköy (İstanbul) mittlerweile Poesie im öffentlichen Raum und beziehen sich in der Auswahl auf die şiirsokakta-Bewegung, sprich auf häufig verwendete Gedichte bzw. Gedichtauszüge. Erwähnenswert ist dabei, dass die Stadteilverwaltung in Kadıköy anfangs (2013/2014) die gefundenen Verse noch überstreichen ließ, was dazu führte, dass Aktivisten und Aktivistinnen die Stadtverwaltung nachts antwitterten und ankündigten, gleich loszusziehen, um Wände und Straßen wieder und weiter zu beschriften…“
Achim schickt Aufnahmen zum Gedicht „Einzelverbot“ von Cemal Süreya, das 2013/2014 zu den weitverbreiteten Gedichten gehört habe. Die Übersetzung des Textes lautet: „An dem Tag, an dem die Freiheit kommt / An diesem Tag ist sterben verboten!“

Im Anfang 2014 restaurierten Cemal-Süreya-Park in Çankaya (Bild: Achim Wagner)

Eine von mehreren Gedichtplatten in der Cemal-Süreya-Straße in Kadıköy, die die Stadtteilverwaltung dort Anfang 2016 verlegen ließ (Bild: Achim Wagner)

In Dikmen (Ankara), früher Herbst 2013 (Bild: Achim Wagner)
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Allgemein
– Bei der #şiirsokakta-Bewegung und der lateinamerikanischen Acción Poética lassen sich einige Parallelen entdecken, die sie deutlich von kerneuropäischer Lyrik im öffentlichen Raum unterscheiden. Zu nennen wäre, neben der Bereitschaft zum Zusammenschluss unter einem Label bzw. Hashtag, zunächst der halblegale bis illegale/wilde Charakter der poetischen Erweiterung/Gewichtung von Mauern, Zäunen, Straßen, der das Recht auf Schönheit und Gedankenfreiheit mit einer Selbstverständlichkeit transportiert, die vorrangig im Jenseits von Saturiertheit und Nachbarschaftsklagen zu gedeihen scheint. Desweiteren der ästhetisch eher spielerische Umgang mit dem öffentlichen Raum, der nicht nur ungezwungener, sondern zugleich auch organischer, bisweilen geradezu zwangsläufig wirkt, während hiesigen Anbringungen bisher meist etwas offiziöses, museales, juriertes („Bronzetafel“) beigegeben ist. Der Bewegungscharakter mit mehr oder minder organisierten lokalen, regionalen, nationalen Gruppierungen, solidarisch geachteten Übereinkünften und hohen Followerzahlen in den sozialen Netzwerken sensibilisiert permanent und mit weitem Radius für Gedichte. Schließlich das politische Moment, das weniger bis gar nicht im Text selbst, sondern aufgrund seiner wilden Anbringung, seiner überraschenden Präsenz und Wechselwirkung mit gesellschaftlichen und politischen Umständen zum Ausdruck gelangt.
Mexikaner und Niederländer forcieren Poesie im öffentlichen Raum mit der für mich bisher deutlichsten Sichtbarkeit – aus teils sehr unterschiedlichen Beweggründen.